Von der Verantwortung befreit
In Bad Doberan und Stralsund störten Neonazis die Gedenkfeierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Zerschlagung Nazi-Deutschlands. Dass bei diesen Deutschland reingewaschen wird, merken sie in ihrem nationalen Wahn nicht.
10.05.2005
Der aufgemeißelte Davidstern hat ihnen wohl nicht gereicht. Neonazis haben auf eine Stele in Stralsund, die an die Reichspogromnacht 1938 erinnert, einen weiteren Davidstern gesprüht, um diesen anschließend durchzustreichen. Doch obwohl sowohl der antisemitische Inhalt der Sprühereien, das Ziel in Form der Gedenkstätte als auch eine ebenfalls am Sonnabend am Ernst-Thälmann-Denkmal entdeckte Hakenkreuz-Schmiererei eine rechtsradikale Motivation offensichtlich machen, kann die Polizei keinen verfassungsfeindlichen Hintergrund erkennen. Die Stralsunder Beamten ermitteln wegen Sachbeschädigung.
Die nächtlichen Aktionen der Neonazis sollten jedoch nicht die einzigen in Stralsund im Zusammenhang mit dem Gedenken an die Zerschlagung Nazi-Deutschlands vor 60 Jahren bleiben. Laut einem Bericht des rechtsradikalen Störtebeker-Netzes störten 25-30 Neonazis aus dem Umfeld des "Freundeskreises Avanti" eine Veranstaltung am sowjetischen Ehrenmal mit Zwischenrufen; zu einem Polizeieinsatz kam es offensichtlich nicht. Auch in Bad Doberan konnte ein halbes Dutzend Neonazis der Bürgerinitiative Hanse M-V mit Transparenten unbehelligt das Gedenken an die Befreiung vom Nationalsozialismus behindern.
German Opfer...
Während sich Neonazis in Ueckermünde auf das Beobachten des dortigen Friedensfestes beschränkten, konnten andere Gedenkveranstaltungen im Land ohne Störungen stattfinden. Sie reihten sich jedoch ein in einen öffentlichen Diskurs, der die deutschen Täter zunehmend ihren Opfern gleichstellt und die Verantwortung für Holocaust und Vernichtungskrieg verwischt.
Wenn allerorts den Alliierten dafür gedankt wird, das deutsche Volk vom Faschismus befreit zu haben, den toten deutschen Soldaten gedacht oder an das Leid der Flüchtlinge erinnert wird, wird verschwiegen, wer die Ausführenden des deutschen Terrors in Europa waren. Die Verantwortung der Wehrmachtssoldaten, die sich am Vernichtungskrieg beteiligt und mit dem Halten der Front das Fortlaufen der Krematorien der Vernichtungslager garantiert, der "Volksdeutschen", die zur Zerschlagung der Tschecheslowakei beigetragen oder die Vernichtungsaktionen in Polen vorangetrieben oder der gewöhnlichen Deutschen, die sich am arisierten Eigentum ihrer jüdischen Nachbarn bereichert und den Alltag des Dritten Reiches am Laufen gehalten haben, findet keine Erwähnung. Statt klarzustellen, dass fast die gesamte deutsche Bevölkerung die nationalsozialistische Politik unterstützt hat, wird das angebliche Leid der Flüchtlinge, Umgesiedelten, Ausgebombten und nach dem Krieg zur Verantwortung gezogenen Nazis immer wieder in den Vordergrund gerückt. Jene, die damit Konsequenzen aus ihrem gnadenlosen Handeln den Opfern des deutschen Vernichtungswahns gegenüber zu tragen hatten, werden diesen gleichgestellt. Der Nationalsozialismus wird zu einem Schicksalserlebnis, das alle gleichermaßen betroffen hat: Juden, Polen, Sowjets, Deutsche. Wo es nur Opfer geben soll, darf es keine Täter geben.
...und erkenntnisresistente Neonazis
Neonazis sind nicht zu der Erkenntnis fähig, dass mit dieser Erinnerungspolitik die Geschichte des Nationalsozialismus relativiert und durch den negativen Bezug auf das Dritte Reich die nationale Identität eines geläuterten Deutschlands geschaffen wird. Während der Bundeskanzler bei den gestrigen Feierlichkeiten zur Befreiung in Moskau mit stolzgeschwellter Brust zwischen den Siegern von einst stand, fabulieren sie weiter von bundesrepublikanischer Unterwerfung unter das Joch der Alliierten. Im Glauben, die einzigen wahren Nationalisten zu sein, werden sie auch weiterhin gegen jenen neuen Nationalismus der Berliner Republik anrennen, der mit dem Vorwand, ein neues Auschwitz verhindern zu müssen, Großmachtpolitik betreibt. Ob in Stralsund, Bad Doberan oder Berlin.
Während sich die meisten autonomen Antifas aus Mecklenburg-Vorpommern am Sonntag den Vorwurf gefallen lassen müssen, in der Hauptstadt zusammen mit der Polizei gegen die das Image Deutschlands gefährdenden Neonazis Staats-Antifa gespielt zu haben, blieben ein paar zu Hause und intervenierten in die lokalen Gedenkfeierlichkeiten. In Wismar stellten sie klar: "Deutsche Täter sind keine Opfer".
Links
Antifaschistische Denkmäler geschändet
Nordkurier vom 09.05.2005
http://www.links-lang.de/presse/2715.php
Rechte störten Gedenkfeier
Ostseezeitung-Bad Doberan vom 09.05.2005
http://www.links-lang.de/presse/2711.php
Nur wenige Gäste bei Friedensfest
Nordkurier-Ueckermünde vom 09.05.2005
http://www.links-lang.de/presse/2703.php
In Erinnerung bleiben Menschen im Bombenhagel
Ostseezeitung-Wismar vom 09.05.2005
http://www.links-lang.de/presse/2707.php
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