Deutschland abschaffen! Gegen völkische Gemeinschaft!
Der Redebeitrag der Antifa Rostock zur Demo am 08. Mai in Rostock.
15.05.2004
Heute am 08. Mai jährt sich zum 59. Mal der Tag der Befreiung. Wir begrüßen alle die gekommen sind, um mit uns zu demonstrieren. Wir stehen hier, um der Opfer der Deutschen zu gedenken.
Das sind die die JüdInnen und Juden, die Roma und Sinti, die ZwangsarbeiterInnen, die behinderten Menschen, die Homosexuellen, die KommunistInnen und Freigeister, die oppositionellen ChristInnnen, die Arbeits- und KriegsdienstverweigerInnen und aller Opfer des Venichtungskrieges der deutschen Wehrmacht.
Wir sind aber auch hier um Kritik denen gegenüber zu formulieren, die einen Schlussstrich unter die Geschichte ziehen und die deutschen Taten relativieren wollen. Der 08. Mai ist nicht der Tag an dem die Deutschen befreit wurden, sondern sie wurden militärisch besiegt. Sie wurden daran gehindert ihren Vernichtungskrieg fortzusetzen.
Eine Gemeinschaft, die sich völkisch als Nation konstruiert hat, konnte die Beendigung ihrer Taten nur als ungerechtfertigten Eingriff empfinden. Zwar gab es den Aktions- und Handlungsrahmen nationalsozialistischer Staat nicht mehr, ein Abgesang auf den völkisch-antisemitischen Konsens fand aber nicht statt.
Nach Erlangung äußerer Souveränität sollte auch die innere Aufrichtung der Nation vorangetrieben werden. Geschichtsentsorgung hat sich in den letzten Jahrzehnten als steter Tabubruch vollzogen, entlang einer von rechts außen längst propagierten Historiographie. Einer Verwechslungskomödie gleich scheint das deutsche Drehbuch ihre Geschichte zu schreiben in völliger Ignoranz der geschichtlichen Tatsachen. Dass ein Strafgericht für die Deutschen ausblieb demonstrierte ihnen doch, dass der Nationalsozialismus schon Strafe genug gewesen sei. Die Millionen Ermordeten wurden auch noch posthum verleumdet, indem die Deutschen die Opferrolle an sich rissen. Ob als Vertriebene, die ihre Vertreibung nicht als Konsequenz aus ihren Taten anerkennen möchten, als Angehörige einer sauberen Wehrmacht, als ganz normale Deutsche, die sich an jüdischen Eigentum bereichert haben, als Menschen die, kurz gesagt, in der Vernichtungsmaschinerie auf allen gesellschaftlichen Ebenen mitwirkten. Das Mitwirkungsrecht zur Gestaltung von Geschichte lässt man sich nicht aus der Hand nehmen.
Alle sind irgendwie traumatisiert, nicht bloß politische und persönliche Erinnerungen werden so hergerichtet, dass sie der Entlastung dienen. In der Gegenwart werden Ereignisse geschaffen, um Geschichte handhabbar zu machen, diese zum Abschluss zu bringen und letztlich einen nationalen Neubeginn zu wagen. Je nach politischer Stimmungslage war die Rede von nicht Tätern, sondern auch Tätern, und mit dem Wachsen eines neuen deutschen Selbstbewusstseins konnte das Täterdasein auf eine Ebene akzeptierter Schuldabwehr verschoben werden. Die Deutschen stellten sich einem imaginierten Opferrancing, bei dem sie nach dem ersten Platz strebten.
Dabei wird mit einer an Schulderkenntnisresistenz grenzenden Vehemenz in der Wahrnehmung verharrt, die Mitleid nur sich selbst gegenüber kennt. Empathie und Auseinandersetzung gegenüber den wahren Opfern werden abgelehnt; schlimmer noch, pathisches Handeln soll durch die Darstellung persönlicher Schicksale erklärbar und somit entschuldigt werden. Dabei hat sich eine Rhetorik entwickelt, die wahlweise und in Kombination mit Verleumdungen, Eingeständnissen, Distanzierungen, Verwechslungen und Empörung agiert. Das der Mord an Massen auch ein Mord von Massen war, wird verdrängt. Erinnerung darf traurig und schmerzvoll sein, aber eines darf sie nicht: Schuldgefühle wecken. Man erinnert sich gerne an das eigene Leid, an Stalingrad, die Luftschutzkeller, Bombenangriffe auf deutsche Städte und die Vertreibung aus den Ostgebieten. Die durch die Niederlage näher zusammengerückte Volksgemeinschaft wähnt sich verfolgt und denunziert; insofern erweist sich für jene auch Jahrzehnte später ihr nationalsozialistischer Vernichtungsplan, der vorsah, sich ihrer Feinde zu entledigen, als notwendig.
Auch die Ermordeten müssen doch schuldig gewesen sein. Dazu dient die stete Beschäftigung mit den wirklichen Opfern, indem zum einem ihr Schuldanteil an ihrer Vernichtung ausgemacht wird und sich zum anderen gegenwartsbezogen mit ihrem heutigen Verhalten beschäftigt wird. Die Nachkommen und wenigen Überlebenden sind die passenden Protagonisten in diesem Kontext. Ihnen wird je nach politischer Stoßrichtung, Verantwortung, Schuld oder die Fähigkeit, sich nach Auschwitz als Weiterbildungsinstitution zu besseren Menschen entwickelt zu haben, zugeschrieben. Die Deutschen hingegen finden ihre Bestimmung als Moralapostel, die sich, spitz formuliert, als Spezialisten für Völkerkunde aufspielen und das bei anderen zu verhindern suchen, was sie Dank der Intervention der Alliierten nicht zur Vollendung bringen konnten. Der Kosovokrieg beispielsweise hat einen deutschen Reflex aktiviert. Wo ethnische Ungereimtheiten auftauchen und sich völkisches Erwachen regt, es gar ein zweites Auschwitz zu verhindern gilt, da wird man die Deutschen finden. Aus Schuld, die sich nicht reinwaschen lässt, wird Verantwortung herbeigelogen.
Um subtil zu demontieren, was sich als Notwendigkeit und Konsequenz nach Auschwitz ergeben hat, lautet sinngemäß eine stete Forderung: Wer über Israel als Konsequenz der Verfolgung der Juden redet, darf heutzutage über den Nahostkonflikt nicht schweigen. Und nun wollen die, die die Gründung des Staates Israels, als Pendant zum Madagaskarplan allenthalben noch geschluckt haben, endlich wieder auskotzen, was ihnen seit 56 Jahren die Kehle zuschnürte. Durch immer wiederkehrende Nazivergleiche, wie Sharon gleich Hitler, im öffentlichen Diskurs soll Israel zum Land der Täter stilisiert werden. Aus Juden werden Nazis. Die Singularität der industriellen Vernichtung von Millionen Menschen erweitert sich zu einem Generalismus, in dem der Holocaust zum Universalbegriff wird.
Seit nunmehr 59 Jahren sind die Deutschen unablässig damit beschäftigt rumzuopfern. Erst sind sie Opfer des Nationalsozialismus, dann der Besatzung und der Teilung Deutschlands. Ihr Reden und Tun verfolgt nur einen Zweck: die Geschichte zu ihren Gunsten zu moralisieren und die Schande auszulöschen. Die Angriffe auf MigrantInnen, die bezeichnenderweise kurz nach der Wiedervereinigung ihren Höhepunkt fanden, sind gewalttätig umgesetzter Ausdruck eines neuen deutschen Selbstbewusstseins. Wer zum ?Volk? gehört bestimmt immer noch die Volksgemeinschaft. Das Fortbestehen rassistischer und antisemitischer Übergriffe, Beleidigungen, Diskriminierungen, Schändungen und Sachbeschädigungen von Friedhöfen und Gedenkstätten im gesamten Bundesgebiet und die, um lokal zu werden, Proteste gegen die Verlegung von Flüchtlingsheimen in mecklenburg-vorpommerischen Städten sind nur einige Beispiele für die Konsequenzen erfolgreicher deutscher Identitätsbildung.
Die gewalttätigen Exzesse von zumeist jungen Deutschen, die in einer Gesellschaft aufgewachsen sind, die Verantwortung für ihre Taten nicht zu übernehmen bereit war und ist, kommen dem Rest der Bevölkerung nur recht. So lassen sich Momente rassistischer und antisemitischer Einstellungen auf ein konkretes Randproblem fixieren. Der ideologische Schulterschluss zwischen sogenannten Nazimob und Bevölkerung wird dabei allzu gern übersehen. Dass unter diesen Vorrausetzungen die Deutschen insgesamt eine Bedrohung sind, ist eine sträflich ignorierte Tatsache. Selbst die Erkenntnis, dass rassistische, nationalistische und antisemitische Einstellungen aus der Mitte der Gesellschaft kommen, wird noch sinnentleert, indem versucht wird, diese im Kampf gegen antidemokratische Bestrebungen zu gewinnen. Deshalb kann sich emanzipatorische Politik nicht an die Mehrheit der Deutschen wenden, sondern muss sich gegen sie richten.
Deutschland abschaffen!
Gegen völkische Gemeinschaft!
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