links-lang fetzt!

Game over Krauts!

Der Aufruf der Antifa Rostock zur Demo am 08.05.2004 in Rostock wird hier dokumentiert.

Flugblatt der Antifa Rostock

Flugblatt der Antifa Rostock, pdf-Datei, 834 KB

Das Ende der deutschen Barbarei bedeutete die Befreiung von mehreren Millionen KZ-Häftlingen, Zwangsarbeiter/innen, NS-Gegner/innen und Kriegsgefangenen. Sie überlebten den unvergleichbaren Terror der Lager, der Todesmärsche, der Ausbeutung in Wirtschaft und Kriegsmaschinerie, der Euthanasieprogramme und der rassistischen Menschenversuche - während über 40 Millionen Menschen dem kollektiven Vernichtungswahn der Deutschen zum Opfer fielen.

Völkisch motiviere Ausgrenzung, Ausbeutung und Ausweisung hatten schon vor Machtantritt der Nationalsozialisten in Deutschland eine lange Tradition. Ein sich entwickelnder Rassen-Antisemitismus, ein biologistisches Nationalverständnis und ein aggressives Sendungsbewusstsein führten im 19. Jahrhundert und im Kaiserreich zu Angriffen auf bis zu Pogromen gegen und zur Abgrenzung von Jüdinnen und Juden, einer repressiven Politik gegenüber Menschen polnischer Herkunft und einer autoritären Innen- und militaristischen Außenpolitik. Die Gesetze und Maßnahmen der Nationalsozialisten waren in der Folge die Konsequenz von tief in der deutschen Gesellschaft verwurzelten Denkmustern. Die große Mehrheit der Bevölkerung unterstützte das nach der Machtübernahme der NSDAP intensiv betriebene Projekt der "Volksgemeinschaft" und profitierte davon. Die Deutschen fanden ihre Heimat in Partei und SS, Reichswehr und Hitlerjugend, Deutscher Arbeitsfront und NS- Frauenschaft. Sie erfreuten sich an Autobahn und Volksempfänger, Arbeit und alten Werten, Heimatabenden und Kraft-durch-Freude-Urlaub. Und sie denunzierten ihre Nachbarn, bemächtigten sich arisierter Vermögen und begrüßten die Aufhebung des "Schanddiktates von Versailles".

DIE VOLKSGEMEINSCHAFT IM REINHEITSWAHN

Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti, Oppositionelle und Freigeister, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle und Arbeitsverweigerer waren es, die angeblich schon durch ihre Existenz die sich in neuer Qualität konstruierende "deutsche Volksgemeinschaft" bedrohten. Ihre Ausgrenzung und Ausrottung war Konsequenz der Konstituierung dieser rassistischen und antisemitischen Blut- und Abstammungsgemeinschaft, die sich von "volkszersetzenden Schädlingen" reinigen wollte, um ihre völkischen Weltmachtphantasien durchzusetzen.

Während dann im Weltkrieg deutsche Männer an der Front für "Lebensraum" kämpften, hielten die Zurückgebliebenen in den besetzten Gebieten die Gaskammern am Laufen oder bejubelten den Vormarsch der Wehrmacht. Als sie sich infolge der Bombardierungen ihrer Städte nicht mehr an der Kriegsbeute erfreuen konnten, sondern die Zeit in Luftschutzbunkern verbringen mussten, war es mit der Begeisterung der Deutschen vorbei. Aber sie hielten weiterhin treu zu ihrem Führer. Nach der bedingungslosen Kapitulation allerdings wollte niemand mehr Täter gewesen sein. Plötzlich waren es Hitler und die anderen führenden Nazis, die laut den Behauptungen weiter Teile der Bevölkerung allein für den Nationalsozialismus verantwortlich waren.

"Seit zwei Monaten sind wir hier zugange, wir haben mit vielen Menschen gesprochen, wir haben jede Menge Fragen gestellt und wir haben keinen einzigen Nazi gefunden. Jeder ist ein Nazigegner. Alle Leute sind gegen Hitler. Sie sind schon immer gegen Hitler gewesen. Was heißt das? Es heißt, dass Hitler die Sache ganz allein, ohne Hilfe und Unterstützung eines Deutschen durchgezogen hat. Er hat den Krieg angefangen, er hat ganz Europa erobert, den größten Teil Russlands überrannt, fünf Millionen Juden ermordet, sechs bis acht Millionen Polen und Russen in den Hungertod getrieben, vierhundert Konzentrationslager errichtet, die größte Armee in Europa aufgebaut und dafür gesorgt, dass die Züge pünktlich fahren. Wer das ganz allein schaffen will, muss schon ziemlich gut sein. Ich kenne nur zwei Menschen in der ganzen Welt, die so etwas können. Der andere ist Superman..." [Zitat des amerikanischen Nachrichtenoffiziers Saul K. Padover, in: Lügendetektor. Vernehmungen im besetzten Deutschland]

Verstanden sich die Deutschen vorher als Opfer einer halluzinierten Macht der Juden sowie als Opfer der Linken, die ihre "Volksgemeinschaft" zersetzen und zerstören wollten, so wurden sie nun zu Opfern der Nazis. Im kollektiven Bewusstsein sahen sie sich selbst als Opfer einer 12 Jahre dauernden Diktatur, die innenpolitischen Terror und Krieg mit sich gebracht hatte. Militärische Aktionen der Alliierten und deren politische Auflagen nach der Befreiung 1945 wurden aus dem Kontext herausgelöst und als eliminatorische Verbrechen am "deutschen Volk" dargestellt. Es folgten Besetzung und Kalter Krieg, in denen die Deutschen sich abermals als zu Unrecht Leidtragende verstanden. Bis sie dann in den 80er Jahren endlich feststellen, Opfer einer Vergangenheit zu sein, "die nicht vergehen will", einer Geschichte, die beständig am deutschen Selbstverständnis und dem gewünschten Bewusstsein nagt. Das geeinte "Volk" im großen neuen Staat mit der alten Hauptstadt will nun die Altlasten und Beschränkungen der letzten 40 Jahre schnell über Bord werfen. Noch immer fühlen sich die Deutschen durch ihre Geschichte gequält, stilisieren sie sich nun zu den Opfern der Opfer des Nationalsozialismus. Die eigentlichen Opfer müssen jedoch mit internationalem Druck ausstehende Entschädigungen in langwierigen Verfahren einfordern. Diese geringfügigsten Zahlungen an die Überlebenden der Barbarei des "deutschen Volkes" werden als erneute ungerechtfertigte Schuldzuweisung verstanden.

HERBEIGEBOMBTE VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG

Wie die angebliche Übernahme von Verantwortung aussieht, hat die rot-grüne Regierung und Zivilgesellschaft in den letzten Jahren bewiesen. Das Dritte Reich funktioniert als negativer Gründungsmythos der Bundesrepublik, die ihre Politik damit begründet, aus der Geschichte gelernt zu haben. Zu den Lagern in Bosnien werden Analogien zur deutschen Vernichtungspolitik hergestellt, um einen Krieg gegen Jugoslawien zu rechtfertigen - "damit Auschwitz nie wieder geschehe" - und später aus außenpolitischem Kalkül Kriege abgelehnt, da "die Deutschen aus eigener Erfahrung wissen, wie schrecklich Bombardierungen sind". Gegenüber dem traditionellen Geschichtsrevisionismus der politischen Rechten, die vehement etwa die Aufhebung der Beneš-Dekrete - als Grundlage der Umsiedlung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei - verlangt, wird geschickt relativiert. Ein vom Bundeskanzler befürwortetes "Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen" beispielsweise soll die Umsiedlung nicht als Folge des Vernichtungskrieges der Deutschen darstellen, sondern in einen angeblichen Kontext von Vertreibungen im Verlauf des gesamten 20. Jahrhunderts einordnen.

Einhergehend mit dem neuen deutschen Selbstverständnis, endlich sagen zu können, was seit langem in den Köpfen gärte, wird der Nationalsozialismus abgearbeitet. Das 20. Jahrhundert, so schlägt es sich unter anderem auch in der Gedenkstättenpolitik zunehmend nieder, war das Jahrhundert der Diktaturen, die über die Deutschen "kamen". Dieser Verwischung aller Ursachen des Dritten Reichs folgt die Relativierung der deutschen Schuld in einem nie da gewesenen Ausmaß: Die Deutschen waren die eigentlichen Opfer Hitlers, als unterdrückte Bevölkerung, Ausgebombte, Heimatvertriebene und Kriegsgefangene. Die Verbrechen an jenen, die aus der Geschichte getilgt werden sollten, werden relativiert. Wenn etwa Jörg Friedrich in seinem Buch "Der Brand" die Bombenangriffe auf deutsche Städte als "Vernichtungskrieg", Luftschutzkeller als "Krematorien" und Bombardierte als "Ausgerottete" bezeichnet, setzt er den Luftkrieg mit dem Holocaust und deutsche Täter/innen mit ihren Opfern gleich. In diesem Kontext fanden dann auch im Rahmen der Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" in Peenemünde im vergangenen Sommer die Deutschen als neu gefundene Opfergruppe ihre wissenschaftliche Anerkennung. Der Weltkrieg wird zu einer Leidensgeschichte der Deutschen hochstilisiert.

Für die extreme Rechte ist es ein leichtes, an dieses Geschichtsverständnis anzuknüpfen. Die Grundtendenz ist dieselbe - die deutsche Geschichte zu rehabilitieren. Die offene Zustimmung zum deutschen Vernichtungswahn oder dessen Leugnung und die radikale Überhöhung der deutschen Toten stößt überwiegend auf Ablehnung im öffentlichen Diskurs der zivilgesellschaftlichen Stichwortgeber/innen. Davon unberührt bleibt jedoch, dass sich Nazis und Bürger an deutschen Stammtischen in ihrem Geschichtsverständnis weitgehend einig sind.

Um auch nur annähernd die Dimension ihrer Verbrechen verstehen zu können, müssten die Deutschen beginnen ihren Opfern zuzuhören. Welche Kraft es die Überlebenden kostet, mit den traumatischen Erlebnissen von Auschwitz weiter zu leben, hat kaum je einen Deutschen interessiert. Relativierung und Revision der deutschen Barbarei sind Ausdruck der Erinnerungsabwehr. Sie ist das zentrale sozialpsychologische Projekt der deutschen Gesellschaft nach 1945, was nach fast 60 Jahren seinen Abschluss in der Opfer-Werdung der Deutschen finden soll. Die Konstituierung der "Volksgemeinschaft" und deren rassistischer Fanatismus bis zur Vernichtung ihrer Opfer ist der zivilisatorische Bruch der bürgerlichen Gesellschaft. Wer die Deutschen daran und an die Tatsache erinnert, dass die industrielle Ermordung der europäischen Juden in ihrer Leidenschaftslosigkeit Ausdruck deutscher Gründlichkeit war, macht sich ihnen verdächtig, Teil einer Verschwörung gegen sie zu sein. So werden ihre Opfer zu den Tätern, die sie nie gewesen sind und die Verbrechen an den Deutschen zum Grausamsten, was es in ihrer Vorstellung je geben kann.

SO WHAT’S LEFT?

Es darf keinen Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit geben. Die Einordnung der nationalsozialistischen Verbrechen in die Geschichte soll den Anschein erwecken, diese ausreichend aufgearbeitet zu haben, um sie demnach ad acta legen zu können. Verbunden mit dieser Schlussstrichdiskussion aber erscheinen neue Debatten im öffentlichen Diskurs, welche die Wiederherstellung eines deutschen Bewusstseins, Heimatgefühls, Nationalstolz und "deutscher Leitkultur" propagieren. Alte Werte wie etwa die preußischen Tugenden der ordentlichen, arbeitsamen, sauberen, fleißigen und gehorsamen Deutschen werden weiterhin hochgehalten, um völkische oder soziale Identitäten zu schaffen. Diese bedeuten weiterhin Stigmatisierung und Ausgrenzung für die schon im Faschismus verfolgten Personengruppen aus der neu konstruierten selbstbewussten Gemeinschaft. Die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen, als Tausende Deutsche in einem Pogrom ihre "Kultur" gegen Roma, Sinti und Vertragsarbeiter/innen glaubten verteidigen zu müssen und dafür mit der Abschaffung des Asylrechts belohnt wurden, sind der bittere Beweis dafür.

Eine deutsche Gesellschaft, die sich permanent verfolgt wähnt und vom hierarchischen und autoritären Denken nicht lösen kann, trägt damit die Ursachen des Nationalsozialismus weiterhin in sich.

Die Deutschen haben kein Recht, politische Interessen zu artikulieren und sich als Moralapostel zu gebärden.

Für uns gilt es daher, jedem Revisionismus der politischen Rechten und der "Neuen Mitte", jeder Verwischung der Grenzen zwischen deutschen Tätern und ihren Opfern und jedem positiven Bezug auf die deutsche Nation entschieden entgegenzutreten! Wir begrüßen die Wachsamkeit aller, besonders der polnischen und tschechischen Menschen gegenüber den Deutschen und erklären uns mit allen politischen Schritten solidarisch, die Deutschland in seine Schranken verweisen. Die Existenz des Staates Israel setzt den Antisemiten wirksame Grenzen; seine Gründung war die einzige Konsequenz aus Auschwitz in einer Welt, die andere Konsequenzen nicht zu ziehen bereit war und ist.

Am 8. Mai gedenken wir aller Antifaschistinnen und Antifaschisten dieser Erde, die im Kampf gegen die Deutschen und ihre Verbündeten ihr Leben gaben; wir danken denen, die ihr Leben riskierten und den Alliierten für die Niederwerfung des Nationalsozialismus. Wir gedenken aller Opfer des deutschen Vernichtungswahnes, der Jüdinnen und Juden, der Roma und Sinti, der Zwangsarbeiter/innen, der Kriegsgefangenen, der behinderten Menschen, der Homosexuellen, Kommunist/innen, Freigeister, der oppositionellen Christ/innen und der Arbeits- und Kriegsdienstverweigerer.

Die Zerschlagung Nazi-Deutschlands durch die Alliierten war und bleibt richtig und wichtig!

Nie wieder Heimat! Nie wieder Volksgemeinschaft!
Deutsche Täter sind keine Opfer!



Unterstützer:

[aas] Autonome Antifa Schwerin; Alternatives Jugendzentrum Kita Ribnitz; Alternatives Jugendzentrum Neubrandenburg; Antideutsche Frauen Berlin [ADF]; Antifa Bad Doberan; Antifaoffensive Westhavelland; Antifa Rostock; Antifaschistische Aktion Potsdam [aapo]; Antifa (X) Recklinghausen; AG Antifa an der Uni Potsdam; Autonome Antifa Nordost [AANO] Berlin; awiro e.V. Rostock; Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus Berlin [bgaa]; bad weather [antifaschistische Gruppe Hamburg]; KOMplex Schwerin; links-lang.de; [´solid] sozialistische Jugend Rostock; ultras71 Postdam