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Kein Mitleid für Obdachlose

Der Prozeß um den Tod eines Obdachlosen nach der Aussetzung durch zwei Polizisten untersuchte die Praxis der "Ortsverbringungen" und den Grad der Hilflosigkeit des Opfers. Die Einstellungen der Täter spielten jedoch keine Rolle.

10.07.2003

Vor dem Stralsunder Landgericht ging heute der Prozeß gegen zwei Polizisten wegen des Todes eines Obdachlosen im Dezember des letzten Jahres zu Ende. Die beiden hatten den stark angetrunkenen Mann bei Minustemperaturen aus Stralsund hinausgefahren und weit vor den Stadtgrenzen ausgesetzt. Dort starb er wenige Stunden später an Unterkühlung im Verbund mit Alkoholvergiftung.

Für die Angeklagten schien der Einsatz Routine gewesen zu sein. Er begann, als sie zu einem örtlichen Sky-Markt gerufen wurden, wo der 35-jährge Wolfgang H. gefallen und mit dem Kopf auf den Boden aufgeschlagen sein soll. Die gerufenen Rettungssanitäter konnten keine Verletzungen feststellen und übergaben den Obdachlosen an die eintreffende Polizei - ohne zu fragen, was Rainer V. und Ronny D. mit dem Betroffenen machen würden.

Sie ließen Wolfgang H. weder gehen, wie er es wünschte, noch brachten sie ihn in das Obdachlosenheim der Stadt oder die Ausnüchterungszelle des Polizeireviers. Die Polizisten setzten in Freienlande aus, Stunden nach Abfahrt des letzten Busses und mehrere Kilometer vor den Toren der Stadt - wie sie es schon öfter getan hätten. Aussetzungen seien ihrer Aussage nach "allgemein üblich". Es hätte mehrere "Verbringeorte" gegeben, an denen Störer ausgesetzt worden seien.

Innenministerium: In Mecklenburg-Vorpommern gibt es keine Aussetzungen

Eine Maßnahme, die die verantwortlichen Stellen schnell dementierten. Einen Verbringegewahrsam gäbe es nicht, so das Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern, und der Leiter der Polizeidirektion Stralsund, Thomas Laum, meinte, eine Vorschrift, die das Fahren von Betrunkenen an den Stadtrand anweisen würde, kenne er nicht. Im Prozeß gegen seine ehemaligen Kollegen jedoch mußte Laum eingestehen, dass es "eine Vielzahl" von "Ortsverbringungen" gegeben habe - darunter auch 20 bis 30 Fälle, in denen nicht geklärt werden konnte, wohin die hilflosen Personen gebracht wurden.

Auch andere Polizisten bestätigten die Praxis der Ortsverbringungen zumindest in Stralsund; in den Diskussionen, die den Prozeß begleiteten, hätten Polizisten erleichtert geäußert, dass bei ihnen so etwas nicht passiert sei oder waren froh darüber, dass es bei ihnen Sommer war. Die vorsitzende Richterin zog zudem einen Kommentar zum Sicherheits- und Ordnungsgesetz heran, der "Ortsverbringungen" als Möglichkeit im Anschluß an einen Platzverweis anführte, der es "Störern" in einem absehbaren Zeitraum unmöglich machen sollte, zurück zum Tatort zu gelangen. Wolfgang H. freilich hatte am Abend des 7. Dezembers genausowenig gestört wie er einen Platzverweis erhalten hatte.

Im Urteil des Gerichts, das den 46-jährigen Rainer V. und den 26-jährigen Ronny D. zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilte, spielte vor allem die Hilflosigkeit von Wolfgang H. eine Rolle. In einem möglichen Berufungsprozeß, den einer der Verteidiger schon angekündigt hat, werden wahrscheinlich die "Ortsverbringungen" noch mehr in den Vordergrund treten. Sollten sich die Aussetzung von möglichen "Störern" auch außerhalb der Stadtgrenzen als geläufige Praxis entpuppen, dürfte sich dies zumindest strafmildernd für die Angeklagten auswirken.

Rainer V.: Um so einen sei es nicht schade

Was für Einstellungen jedoch bei denen mitspielen, die eine Aussetzung von Obdachlosen als normal oder sinnvoll ansehen oder sie sogar vollziehen, wurde weder im nun beendeten Prozeß behandelt wie es auch in möglichen folgenden eine Rolle spielen wird. Die Aussetzung von Obdachlosen entspricht einem Bild von Ordnung, das alles Störende aus dem Blickfeld verbannen möchte. Dass auch der angeklagte Rainer V. die Einstellung teilte, dass es Menschen gibt, die mehr Rechte haben als andere, so auch das Recht zu leben, wurde im Prozeß deutlich. Ein ehemaliger Kollege und Freund, dem sich V. anvertraut hatte, der die schreckliche Tatsache jedoch nicht verschweigen konnte, zitierte ihn mit der Aussage, dass es V. leid getan hätte, wenn das Opfer ein normaler Bürger gewesen wäre. Aber Wolfgang H. sei ja nur eine "Dreckfresse" gewesen: Um einen, der schon so lange im "Knast" gesessen habe, um den sei es nicht schade.

So wie Rainer V. denken sicherlich nicht die meisten Einwohner Mecklenburg-Vorpommerns. Doch die Folge von Forderungen nach sauberen Innenstädten, in denen jene nichts zu suchen haben, die nicht dem Bild des ordentlichen Bürgers entsprechen, ist nichts anderes als die Entrechtung jener "Störer". Die zwangsläufig auch ihren Tod in Kauf nimmt - hauptsache, niemand wird davon gestört.

Links

Ließen Polizisten Stralsunder Trinker erfrieren?
Schweriner Volkszeitung und Ostseezeitung vom 09.01.2003
http://www.links-lang.de/presse/448.php

Morgen beginnt in Stralsund Prozess nach rätselhaftem Tod an der Straße
Nordkurier, Schweriner Volkszeitung und Ostseezeitung vom 25.06.2003
http://www.links-lang.de/presse/929.php

Schwere Vorwürfe gegen Stralsunder Polizei
Nordkurier und Ostseezeitung vom 27.06.2003
http://www.links-lang.de/presse/942.php

Polizist belastet angeklagte Kollegen
Ostseezeitung vom 28.06.2003
http://www.links-lang.de/presse/946.php

Vernehmung von Innenminister Timm beantragt - Gravierende Verstöße der Polizei eingeräumt
Nordkurier und Ostseezeitung vom 09.07.2003
http://www.links-lang.de/presse/979.php

Überraschend hohe Strafe im Obdachlosenprozess: mehr als drei Jahre Haft für Polizisten
Schweriner Volkszeitung und Ostseezeitung vom 10.07.2003
http://www.links-lang.de/presse/983.php

Neue Runde im Stralsunder Polizistenprozess
Ostseezeitung vom 17.07.2003
http://www.links-lang.de/presse/999.php